Cover
Titel
Von Angst bis Zerstörung. Deutschsprachige Bühnen- und Hördramen über den Atomkrieg 1945–1975


Autor(en)
Fiandra, Emilia
Reihe
Interfacing Science, Literature, and the Humanities 13
Erschienen
Göttingen 2020: V&R unipress
Anzahl Seiten
642 S., 5 Abb.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Deupmann, School of Foreign Languages, Beijing Institute of Technology

Die Frage, welche akademische Disziplin als „Leitwissenschaft“ eines Jahrhunderts gelten kann, lässt sich vielleicht auch an den Themen und Modellen ablesen, die sich in der Literatur niederschlagen. Mag im 19. Jahrhundert die Chemie eine „Leitwissenschaft“ gewesen sein (siehe etwa Goethes Wahlverwandtschaften, 1809), so war dies im 20. Jahrhundert wahrscheinlich die Physik.1 Die Monografie der an der Universität Roma Tre tätigen Literaturwissenschaftlerin Emilia Fiandra über dramaturgische Darstellungen des Atomkriegs bestätigt diese Einschätzung gewissermaßen von der Gefahren- oder Risikoseite dieser Wissenschaft her. Neben den etwa von Ernst Bloch (Das Prinzip Hoffnung, 1954/1959) enthusiastisch gefeierten positiven Verheißungen der Atomkraft traten mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki 1945 und den nachfolgenden Nuklearwaffentests verstärkt die Bedrohungen der Atomphysik ins öffentliche Bewusstsein und sehr bald auch auf die deutschsprachigen Bühnen.

Dass man heute nur noch wenige Beispiele kennt – wie Bertolt Brechts Galilei-Drama (1955/1956), Friedrich Dürrenmatts Die Physiker (1962) oder Heinar Kipphardts als Fernsehinszenierung 1964 uraufgeführtes Drama In der Sache J. Robert Oppenheimer, spricht nicht dagegen: Eine beeindruckend große Zahl von inzwischen meist vergessenen, oft unpubliziert gebliebenen Bühnenstücken und Hörspielen hat die Verfasserin aus Literaturarchiven, den Archiven von Verlagen und Radiosendern sowie privaten Quellen gehoben, was allein schon ein großes Verdienst der Untersuchung ausmacht. Den Grund für das Vergessen, dem die meisten dieser Dramen anheimfielen, gibt Fiandra gleich eingangs an: Die Stücke verfolgten „eher politische als ästhetische Ambitionen“ (S. 16) und waren eng mit der zeitgeschichtlichen Gegenwart verbunden, die ihnen – kernphysikalisch ausgedrückt – meist eine geringe Halbwertszeit im literarischen Gedächtnis eintrug. Stichworte wie Hiroshima, Wiederbewaffnung, Koreakrieg, Suez- und Kubakrise sowie die sie begleitenden Proteste und die Bemühungen um Rüstungskontrolle zwischen North Atlantic Treaty Organization (NATO) und Warschauer Pakt prägten den politischen Diskurs vor allem der 1950er- und 1960er-Jahre, in den sich die Dramen einschrieben.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile: (I) eine ausführliche Analyse ästhetischer, thematischer, historischer Aspekte und Kontexte der einschlägigen Dramenproduktion einschließlich eines Periodisierungsversuchs sowie einer systematischen Erschließung ihres formalen und inhaltlichen Spektrums; (II) einen deutlich umfangreicheren Teil mit kurzen (4- bis 8-seitigen) Einzeldarstellungen von 81 Schau- und Hörspielen, von denen fast zwei Drittel in die 1950er-Jahre fallen. Titel-, Personen- und Sachregister erleichtern die Erschließung.

„Atomdramen“ (S. 16) nennt Fiandra ein über drei Jahrzehnte produktives und zeitweise sehr erfolgreiches Genre, das aufgrund seiner Formenvielfalt und thematischen Breite schwer zu definieren sei: Es geht darin um historische Ereignisse wie Hiroshima und Nagasaki, aber auch um „apokalyptische[] Zukunftsvisionen“ und ethische Dilemmata der Wissenschaft, um „Rüstungswettlauf, Zivilisationskritik, Atomspionage und -verrat, antinukleare Kampagnen, Feindseligkeitsbilder im Kalten Krieg, mediale Spektakularisierungsdynamiken der Katastrophe“ und manches mehr (S. 22).2 Über bestimmte Handlungsmuster und Figuren lassen sich Subgenres wie das „Atomverratsdrama“ oder das „Pilotendrama“ eingrenzen (S. 24). Gemeinsam ist der formal heterogenen – Schauspiel, Sprechstück, Hörspiel, Oper und Kabarettstück umfassenden – „antiatomaren Bühnen- und Funkdramatik“ die kritische Opposition gegen nukleare Aufrüstung und Rüstungspolitik (S. 25). Innerhalb des Genres macht Fiandra eine Reihe von motivisch, metaphorisch und sogar lexikalisch zusammenhängenden Grundmodellen aus: „das Prozess- und Dokumentarspiel, das Katastrophendrama, das Survival-Drama, das argumentative Wissenschaftlerdrama, das kommemorative Japan-Drama, der lyrische Text mit Appellstruktur, das didaktische Mahnstück, das politische Friedensdrama“ (S. 25).

Das erste Atomdrama, das „gesprochene[] Oratorium“ Atom Bombe des Schweizers Franz Fassbind, markiert kaum zwei Monate nach der Zerstörung Hiroshimas vom 6. August 1945 den „unwiderrufliche[n] Aufbruch des Theaters in das Atomzeitalter“ (S. 25f.). Die neutrale Schweiz war Ausgangspunkt auch des zweiten Stücks, Max Frischs Die Chinesische Mauer (1946). Dass es noch ein paar Jahre dauerte, bis sich das Bewusstsein durchsetzte, in ein neues Zeitalter der technisch möglichen Selbstvernichtung der Menschheit eingetreten zu sein, lässt sich an der dichten Folge immer neuer Stücke ab 1948 ablesen. Die amerikanische Zensur beschränkte die verfügbaren Informationen über die zerstörten japanischen Städte stark, und außerdem hatten die Nachkriegsdeutschen, wie Fiandra einleuchtend argumentiert, mit ihren eigenen Trümmerstädten, der Schuld und dem nationalen Desaster mit sich selbst viel zu schaffen. Tatsächlich waren es erst die Atomwaffentests, auf welche die Dramatik der Nachkriegszeit reagierte – beginnend mit Fred Dengers Theaterstück Bikini (1948). West- und ostdeutschen Autoren war das Selbstverständnis als Deuter des Atomzeitalters und Warner vor einer atomaren Apokalypse gemeinsam, auch wenn sie sich im Kalten Krieg der Militärbündnisse ideologisch unterschiedlich aufstellten: als Kritiker von Wiederbewaffnung und NATO-Integration während der Adenauerzeit oder im „antifaschistischen“ Kampf gegen den westlich-amerikanischen „Imperialismus“.

Fiandras chronologische Periodisierung der Dramenproduktion belegt einen starken Zuwachs des Genres in den 1950er-Jahren bis zu einem Höhepunkt zwischen 1955 und 1959, auf den ein Nachlassen ab Mitte der 1960er-Jahre folgte. 1955 war das Todesjahr Einsteins und der zehnte Jahrestag der Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte, was die publizistische Aufmerksamkeit für das Thema Nuklearrüstung verstärkte. Und es war außerdem der in West wie Ost mit großem Interesse verfolgte Koreakrieg, der einen nuklearen Schlagabtausch der Supermächte wahrscheinlicher zu machen schien. Flankiert wurden die Schau- und Hörspiele durch eine lebhafte intellektuelle Debatte, an der sich etwa Günther Anders, Hannah Arendt, Hans Blumenberg, Karl Jaspers und Robert Jungk (Heller als tausend Sonnen, 1956) beteiligten. Auch wenn die Bundesrepublik Deutschland gemäß dem Pariser Abkommen vom Oktober 1954 selbst keine Nuklearmacht sein sollte, stand sie doch als Basis für amerikanische Atomwaffen bereit. Die „Göttinger Erklärung“ von 18 namhaften Naturwissenschaftlern oder der „Appell der 20 Schriftsteller“ (beide 1957) zeigen die wachsende Besorgnis, die sich in der Anti-Atom-Dramatik niederschlug und auch bekannte Autoren wie Carl Zuckmayer (Das kalte Licht, 1955), den Schweizer Friedrich Dürrenmatt (Das Unternehmen der Wega, 1954; Die Physiker, 1962), Bertolt Brecht in der DDR (Leben des Galilei; Leben des Einstein, beide 1955/1956) und etwas später auch Heinrich Böll (Ein Schluck Erde, 1961) und Hilde Rubinstein (Null Uhr Null, 1965) umtrieb.

Die Kubakrise 1962 trug dazu bei, die Gefahr eines atomaren Kriegs auch in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre gegenwärtig zu halten. Als die damalige Friedensaktivistin Gudrun Ensslin mit ihrem Ehemann Bernward Vesper 1964 im eigenen Kleinverlag den Band Gegen den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe publizierte (mit Beiträgen von Günther Anders, Max Brod, Nelly Sachs u. a.), war es indes nicht mehr weit bis zur Verschiebung des öffentlichen und literarischen Interesses auf den Protest der „Außerparlamentarischen Opposition“ und den aus Teilen ihres Spektrums hervorgehenden Linksterrorismus. Feminismus, sexuelle Befreiung oder Umweltzerstörung (auch hinsichtlich der Gefahren der Kernenergie) stellten der Dramatik weitere Themen bereit, sodass der Atomkrieg – unwahrscheinlicher geworden durch den internationalen Nichtverbreitungsvertrag von Kernwaffen (NPT, 1970) – allmählich seine Strahlkraft als dramatischer Stoff einbüßte. Das Jahr 1975 als zeitliche Grenze des auf Vollständigkeit zielenden Textkorpus wirft allerdings die Frage auf, ob die zu Beginn der 1980er-Jahre erstarkende westdeutsche Friedensbewegung nicht auch ein Echo im Drama erzeugt hat: Ein Beispiel für solche späteren literarischen Reaktionen ist Elke Heidenreichs 1987 uraufgeführte Sprechtheater-Komödie Unternehmen Arche Noah.

Mit dem Verfahren der „multidimensionalen Skalierung“ (MDS, S. 47; in anderen Arbeiten auch „Ähnlichkeitsstrukturanalyse“ genannt) stellt die Autorin in fünf Grafiken dar, wie sich inhaltliche und formale Charakteristika auf die Anti-Atom-Dramen verteilen und welche redundanten „Motivfelder“ und „Cluster“ sie ausbilden. Die grafischen Aufbereitungen von 43 Kategorien und 81 Dramen bestechen freilich nicht durch Anschaulichkeit. Gezeigt wird jedoch, dass sich etwa in den „Japan-Dramen“ „codifizierte narrative Paradigmen“ wie „Atombombenblitz, Schatten- und Schuhmotiv, japanische Fischer, Hiroshima-Pilot“ etablierten, mit denen die Katastrophe darstellbar gemacht wurde (S. 53). Bei der anschließenden Interpretation der Daten arbeitet Fiandra philologisch. Da die technische Destruktivität der Atombombe tendenziell auch die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft und narrativer Sagbarkeit sprengte, arbeiteten sich die Texte an der „Darstellung des Undarstellbaren“ ab (S. 53), wie ein weit verbreiteter, später vor allem auf Repräsentationen der nationalsozialistischen Shoah bezogener Topos lautete. Unter Einbezug der physikalischen Fachsprache hatten die Stücke ein neues „Nuklearvokabular“ (S. 55) zu entwickeln. Die 81 mit bibliografischen Hinweisen auf Rezensionen und Sekundärliteratur versehenen Einzeldarstellungen im umfangreichen zweiten Teil (S. 151–570) konkretisieren die systematischen Befunde an jedem einzelnen der Schau- und Hörspiele.

Im Ganzen bereichert Emilia Fiandras Monografie die Kenntnis der deutschsprachigen Literaturgeschichte der Nachkriegszeit um ein zeitweise prominentes Genre deutlich. Für die weitere Erforschung dieses Genres ist die Studie auch als Handbuch sehr brauchbar.

Anmerkungen:
1 Vgl. Armin Hermann, Die Jahrhundertwissenschaft. Werner Heisenberg und die Physik seiner Zeit, Stuttgart 1977 (überarb. Taschenbuchausgabe mit dem Untertitel „Werner Heisenberg und die Geschichte der Atomphysik“, Reinbek bei Hamburg 1993). Vgl. aus literaturwissenschaftlicher Sicht Clemens Özelt, Literatur im Jahrhundert der Physik. Geschichte und Funktion interaktiver Gattungen 1900–1975, Göttingen 2018.
2 Der Untertitel der Monografie „über den Atomkrieg“ verengt den Gegenstand der untersuchten Dramen ein wenig. Auch das Reden darüber wie in Karl Valentins Kabarettstück Die Atombombe (1946/1947) oder der radioaktive Niederschlag der Atomtests wie in Wolfgang Weyrauchs Die japanischen Fischer (1955) dokumentieren die zeitgenössische „Atomangst“ (S. 22).